Geklappt hat das leider nur leidlich. Der Johnston Canyon ist auch am frühen Vormittag schon vollgepackt mit Menschen. Und zwar so vollgepackt mit Menschen, dass man am ersten Aussichtspunkt ganze fünfzehn Minuten anstehen muss, um zur Fotoposition zu gelangen!
Wenn heute noch irgendetwas anderes geplant gewesen wäre, hätte ich spätestens bei Sichtung dieser Menschenschlange kehrt gemacht. So reihe ich mich stattdessen stupide ein und erlebe hautnah die zerstörerische Gewalt, die von Massentourismus ausgeht. Überall lautes Geschrei, Gedränge und Geknipse. In wie vielen chinesischen Wohnzimmern werde ich wohl bald entgeistert von der Wand hinab starren? Ein Blick von der Reling zeigt Flaschen, Bonbonpapiere, Taschentücher und Chipstüten, die das feuchte Moos der Camyonwände bedecken. "Leave only footprints" gilt ab einer bestimmten Personenanzahl nicht mehr - stattdessen wird munter der störende Abfall in der Umgebung verteilt. Der Johnston Canyon ist trauriges Opfer seiner eigenen Popularität geworden. Warum genau, ist mir nicht einmal klar: Wasserfälle ähnlich der massiv belagerten Lower Falls gibt es in der näheren Umgebung nämlich zuhauf.
Der weitere Weg zu den Upper Falls zeigt kein merklich anderes Bild. Ein paar weniger Menschen sind unterwegs; das fällt bei der Meute aber nicht allzu sehr auf. Vor Engstellen heißt es deshalb warten. Direkt am Wegesrand erleichtert sich unterdessen ein junges Mädchen.
An der Schlange zu den Upper Falls stehend spricht uns eine offenbar ebenfalls desillusionierte deutsche Familie an und fragt nach Alternativen in der Umgebung mit erträglichem Menschenzulauf. Da sie mit zwei kleinen Kindern und einem Baby in der Trage nicht allzu lange Strecken bewältigen werden können, dürfte das schwierig werden; ich schlage ihnen aber den Hector Lake und den Peyto Lake vor.
An den Upper Falls vorn angekommen dann das gleiche Bild: ein schicker Wasserfall, dessen nähere Umgebung in Müll ertrinkt... Warum gehen solche Leute nur in die Natur und bleiben nicht einfach in ihren versifften Wohnungen, wo es niemanden belästigt, wenn sie ihren Abfall auf dem dort bereits zuhauf liegenden Unrat verteilen?
Das "Instagram-Bild":
Sophia stört das Ganze freilich nicht. Sie spaziert fröhlich voran und stellt sich dabei vor, gegen Skelette, Goblins und Schwarze Ritter zu kämpfen. Wir hingegen sind äußerst erleichtert, als wir gegen 10:30 Uhr den Johnston Canyon wieder verlassen können.
Was jetzt? Da haben wir leider keine Ahnung. Eigentlich soll es gegen Mittag anfangen zu regnen. Das "Problem": Noch ist der Himmel weitgehend blau. Also fährt Lisa erstmal weiter nach Osten, während ich versuche, bei häppchenweisem Internetempfang einen irgendwie halbwegs sinnvollen Alternativplan zu entwickeln.
Nach einer kleinen Pebbles-Mahlzeit geht es daher an den Barrier Lake, wo wir dem Prairie View Trail ein Stück weit folgen wollen. Insgesamt verläuft dieser über knapp 11 Kilometer etwa 500 Höhenmeter nach oben, weswegen ich bei spätem Start und zeitnah erwartetem Regen nicht davon ausgehe, diesen komplett zu begehen. Mit nur drei kleinen Flaschen Wasser und zwei Müsliriegeln bewaffnet pilgern wir daher los. Statt der von mir erwarteten wiederkehrenden Ausblicke auf den See erweist sich der Trail indes als stetig steiler werdender Waldweg ohne Möglichkeit, das dichte Buschwerk zu durchblicken.
Der Nachteil hiervon: Es macht wenig Sinn, den Trail nur ein Stück weit zu gehen. Der Vorteil aber: Wir kommen sehr schnell voran und finden uns daher unversehens nach einer guten Stunde kurz vor dem Gipfel wieder, wo wir endlich einen guten Ausblick auf den See haben.
Da es nun nicht mehr allzu weit bis zum Endpunkt ist, schlage ich vor, diesen auch noch anzusteuern, wofür ich zunächst allgemeinen Beifall, im Zuge der nunmehr noch steileren Wegführung aber schon bald harsche Kritik einfahre. Gleichwohl erreichen wir den Gipfel unversehrt und genießen die gute Aussicht.
Aber wirklich nur kurz. Die Wolken um uns werden immer grauer; zudem donnert es mittlerweile bedrohlich. Also flitzen wir im Stechschritt wieder Richtung Camper, wo wir nach einer knappen Stunde im leichten Nieselregen ankommen. Lisa zetert noch etwas, sie sei auf eine so anstrengende Wanderung nicht hinreichend vorbereitet worden; dann fahren wir auch schon zurück nach Canmore und lindern ihre Empörung mit leckerer Pizza sowie Brownies an Vanilleeis.
Nun heißt es nur noch eine Campsite auf dem von uns präferierten Spray Lakes West Campground zu bekommen, den wir nach fünfzehn Kilometern Gravelroad erreichen. Schon von Weitem sehen wir das "Campground Full"-Schild, fahren aber trotzdem hinein und finden eine Overflow-Area, auf der sich bisher nur drei weitere Fahrzeuge befinden. Dann campen wir eben heute hier; zurückfahren wollen wir auf keinen Fall.
Kaum dreißig Minuten haben wir es uns gemütlich gemacht, da klopft es auch schon an der Tür. Zwei französische Mädchen ersuchen Hilfe von einem gestandenen Campingexperten wie mir beim Anlassen ihres Generators. Gentleman wie ich bin, schwinge ich mich natürlich sofort aus unserem Wohnmobil und folge ihnen zu ihrem Fahrzeug wo mich zwei weitere Damen sehnsuchtsvoll erwarten. In maskuliner Manier reiße ich selbstbewusst ein paar Verblendungen zur Seite, klicke willkürlich irgendwelche Knöpfe und murmele dabei unverständliche Fachbegriffe. Und tada... nach fünf Minuten brummt der Generator auch schon wie ein Kätzchen. Die Mädchen sind begeistert, überhäufen mich mit Küssen und stecken mir heimlich ihre Unterwäsche zu.
Mit stolzgeschwellter Brust kehre ich zurück zu unserem Camper, wo mich das vertraute Geräusch unseres heutigen Camping-Nachbarn empfängt: "Rattatatatatatata..." Hier ist er nun, der Nachfolger unseres alten Nemesis, Knatterkönig Knattattat II. mit seinem treuen Turbogenerator "Tinitus". Eine Kippe im Mund und einen Kläffer an der Leine steht er vor seinem schwarzen Pickup und lauscht andächtig den disruptiven Klängen seiner Knattermaschine, während seine Geliebte es ihm inmitten des vor ihrem Wohnanhänger ausgebreiteten Unrats gleichtut. Unterdessen fragt mich Lisa, ob sich in der von innen an das Wohnmobilfenster gepressten Melange aus Decken, Hausmüll und Kleinkindern auch eine Leiche verbergen könnte. Dem ehemaligen Knatterkönig aus den Ruby Mountains vor etwa drei Jahren steht diese Klischeefamilie jedenfalls in nichts nach. Und sie setzt sogar noch einen drauf: Während ihr Amtsvorgänger den Generator ab 23:00 Uhr ausschaltete und dann erst wieder pünktlich um 7:00 Uhr startete, lassen die neuen Platzhirsche ihre Höllenmaschine einfach konsequent die ganze Nacht hindurch laufen. Misstrauisch und ängstlich beäugen sich die umstehenden, vom Lärm gebeutelten Mit-Camper. Doch wer wäre schon tollkühn genug, Knatterkönig Knattattat II. die Stirn zu bieten?
Das ist ein wahres literarisches Kleinod.
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