Sonntag, 20. Juli 2025

Tag 10 - Party-Sonne

Unser letzter Tag im Glacier National Park. Da ist natürlich noch einmal ein Knaller eingeplant, auf den ich meine Mitreisenden bereits gestern mit einer absolut empowernden Motivationsrede ("SEID IHR BEREIT ZU LAUFEN BIS DIE FÜẞE BLUTEN?? - JAAAAAAAA!!!!) eingestimmt habe. Vorgesehen ist der Highline Trail vom Logan Pass zum Loop-Trailhead, 20km oneway, 300 Höhenmeter nach oben, 900 nach unten. Der Wetterbericht sagt "partly sunny", mithin einen Sonne-Wolken-Mix voraus - perfekt!

5:15 Uhr stehen wir auf, 6:15 Uhr an der Shuttle-Haltestelle, 6:55 Uhr im Shuttle und 7:55 Uhr am Logan Pass. Alles läuft nach Plan. Nur die Sonne scheint noch etwas schüchtern zu sein.


Naja, flitzen wir erstmal los; es wird sicher bald aufreißen. Eine Stunde später - leichter Nieselregen setzt ein; von Sonnenschein noch immer keine Spur. Sophia will wissen, wann jetzt endlich die "Party-Sonne" kommt. Da habe ich mich mit "partly sunny" wohl missverständlich ausgedrückt...


Auch am Haystack Butte keine Besserung.

Und dann - dichter Nebel:



So wird das wohl nichts mit den atemberaubenden Ausblicken. Setzen wir uns halt erstmal hin für einen kleinen Snack. Kaum sitzen wir, fängt es an zu regnen. Erst etwas, dann immer mehr. Sophia will immer noch wissen, wann die "Party-Sonne" kommt. Statt ihrer setzt nun aber immer stärkerer Regen ein. Bald schon sind wir trotz unserer Funktionsjacken klitschnass. Kilometerstand auf meinem Handy: Neun - umdrehen macht also auch keinen Sinn mehr. Stattdessen suchen wir kurz Zuflucht unter einem Baum, um dem fröstelnden Kind mein Zweitpaar Wandersocken über die Hände zu ziehen.


Hier gibt es sogar Internet. Der Wetterbericht will von unserer Situation aber nichts wissen; demnach ist es "partly sunny" mit zehn Prozent Regenchance. "Wo ist denn nun die Scheiß-Party-Sonne?" fluchschluchzt Sophia. Das frage ich mich allerdings auch - hier jedenfalls nicht. Was es hier gibt, ist strömender Regen, durchnässte Kleidung und etwa neun bzw. zehn Kilometer Entfernung bis zum Start- bzw. Endpunkt der Wanderung. Laut meiner Karte kommt in drei Kilometern Entfernung immerhin ein kleines Chalet. Also Zähne zusammenbeißen und ab durch den Monsun. Nach einer knappen Stunde kommen wir dort durchgeweicht an und klappern uns durch die beschlagene Tür. 

Viel besser hier drin, wenn auch sehr voll. Die Jacken werden an Wäscheklammern aufgehängt; dann setzen wir uns erstmal an einen Tisch in der Ecke des Raums. Warum die Fenster bei den Temperaturen offen sein müssen, erschließt sich mir nicht. Naja, dann bestellen wir uns zum Aufwärmen halt heißen Kakao, steht ja vorn an der Tafel. Aber schade, schade, Schokolade - laut Verkäuferin ist gerade heute kein heißes Wasser verfügbar! Ihr bizarres Angebot, doch gleichwohl das wasserlösliche Kakaopulver zu erwerben, schlage ich aus. Sodann bemühen wir uns darum, irgendwie die wichtigsten Kleidungsstücke an einem kleinen Öflein zu trocknen, dies freilich mit bescheidenem Erfolg.

Meine Strümpfe jedenfalls sind mittlerweile nicht mehr zu retten. Hätte ich doch wenigstens noch ein zweites Paar trockene Wandersocken! Dieses aber fühlt sich nach seiner "offlabel"-Nutzung als Kinderhandschuhe ebenfalls wie ein benutzter Waschlappen an. Es nützt doch alles nichts - wir müssen hier raus und wieder los! Daher werfen wir uns nach einer knappen Stunde die unverändert nassen Jacken sowie - brrrrrrr - die durchweichten Rucksackträger über und machen uns daran, die letzten sechs bis sieben Kilometer zu bewältigen. Ist das kalt hier draußen!

Nach etwa 20 Minuten scheint Gewöhnung oder Gleichgültigkeit einzusetzen. Jedenfalls frieren wir nicht mehr. Der Regen hat auch aufgehört. Dem Delirium nahe finden wir sogar Gefallen an einem Hähnchen mit witzigen Augenbrauen.

Warum hat der nur sowas? Während ich noch darüber sinniere, schlägt Lisa Alarm: Bär! Und nicht nur einer - eine Grizzly-Mama mit zwei kleinen Jungen läuft etwa zehn Meter rechts von uns über eine Lichtung! Adrenalin schießt ein, das Bärenspray ist schon in meiner Hand und wird entsichert. Wir gehen langsam zwanzig Meter zurück, die Bären immer fest im Blick. Unterstützung haben wir diesmal keine; nur wir und die Bären. Und was machen die? Sie gehen weiter in unsere Richtung...

Also müssen auch wir weiter zurück, um eine Kurve herum. Jetzt sehen wir die Bären nicht mehr. Manchmal raschelt es rechts, manchmal knackt es links. Wir schauen so gut es geht in alle Richtungen; Sophia steht in der Mitte und meint, dass wir zum Glück gut ausgestattet sind, da wir Bärenspray dabei haben. Ich bin mir da nicht so sicher...

Nach etwa fünf Minuten hören wir Stimmen hinter uns. Kurz darauf erscheinen drei weitere Wanderer, denen wir in der Hoffnung auf Unterstützung von der Bärenmama erzählen. Die erhoffte Hilfe bleibt indes aus. Die Ankömmlinge fragen stattdessen uns, was nun zu tun sei. Na, hier bleiben bis es dunkel wird jedenfalls nicht! Also tasten wir uns langsam vorwärts. Ich ganz vorn mit Bärenspray, dann Lisa und Sophia und ganz hinten unsere vermeintlichen Unterstützer. Was hat der alte Ranger in der gleichen Situation vor drei Tagen nochmal gemacht? "Bear, bear, bear, bear!" gerufen und Steine ins Gebüsch geworfen. Steine werfen scheint mir jetzt nicht die optimale Strategie zu sein, also beschränke ich mich darauf, mich langsam und "Bear, bear, bear, bear!" rufend voranzutasten. Immer wieder spähen Lisa und ich abwechselnd bergauf und bergab. Von der Bärenmama ist aber nichts mehr zu sehen. Nach etwa 150 Metern entspannen wir uns wieder und gehen normalen Schrittes weiter - das Bärenspray bleibt aber von nun an im Anschlag.

Die letzten drei Kilometer ziehen sich wie Kaugummi. Mir schmerzt der Rücken, Lisa die Fußsohle, Sophia muss aufs Klo. Wie zum Hohn kommt nun auch die Sonne endlich raus.

Irgendwann - Lisa glaubte schon nicht mehr daran -kommen wir dann doch taumelnd am Loop-Trailhead an und danken dem Schöpfer dafür. Noch besser: Ohne jede Wartezeit können wir ein Shuttle besteigen und zurück zum Visitor Center düsen. Hier unten nun: bestes Kaiser-Wetter.

Das bedeutet also "partly sunny". Oben regieren Sturm und Frost; unten steppt die "Party-Sonne". Das hätten wir gern vorher gewusst.

Heute geht jedenfalls nichts mehr. Lisa und Sophia essen noch ein Eis; ich hau mich hinten auf die Pritsche. Der Glacier National Park hat uns auf jeden Fall absolut umgehauen - mal auf die eine, mal auf die andere Art und Weise. Umso gespannter sind wir auf das, was uns in Kanada erwartet. Die nächsten Tage werden es sicherlich zeigen.

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