5:30 Uhr. Noch kündet kein Warnzeichen die meteorologische Anomalie an, die uns in zwei Stunden aus unserer Vitamin-D-Mangel-bedingten Lethargie reißen wird. Vielmehr erwartet mich beim allmorgendlichen Blick aus dem Fenster das vertraute Bild undurchdringlichen Nebels, der jedwede Sicht fernab der nächstgelegenen Krüppelkiefer kategorisch unterbindet. Der bitterlichen Kälte geschuldet fahren wir zunächst ohne große Hoffnungen erneut zum Parkplatz des Peyto Lakes, um nach kurzzeitig angeworfenem Heizgebläse unser kärgliches Mahl in der hierdurch leidlich aufgewärmten Wohnkabine zu uns zu nehmen.
Beim Blick aus der Dachluke trifft mich fast der Schlag. Sollte dort oben am Himmel tatsächlich ein kleines Fitzelchen Blau schimmern? Ein Warnanruf beim Nationalen Wetterdienst sowie beim Amt für Bevölkerungs- und Katastrophenschutz ("Dringende Sonnenbrandwarnung!") scheidet leider mangels Netzservice aus. Also düsen wir zur Kontrolle zunächst zum Bow Lake. Auch hier das gleiche verstörende Bild. Leichtes Himmelblau, welches nur noch vom immer dünner werdenden Bodennebel in Schach gehalten wird. Wieder zurück am Peyto Lake wollen wir der Sache selbst auf den Grund gehen und begeben uns zum offiziellen Aussichtspunkt. Und hier streift mich nun etwas, von dem ich schon fast vergessen hatte, dass es überhaupt existiert, etwas, das viele kanadische Kinder nur aus Märchen der Altvorderen kennen: Sonnenlicht. Sofort mache ich mich mit Lisa und Sophia auf den Weg zu einem inoffiziellen Aussichtspunkt etwa 120 Höhenmeter den Berg hinauf und hier liegt er nun tatsächlich in all' seiner Pracht hell erleuchtet vor uns: der Peyto Lake.
Was für ein Anblick! Und was für eine Ruhe auf unserer einsamen und warm beschienenen Felskuppe. Fast dreißig Minuten lang saugen wir diesen seltenen Moment besten Wetters in uns auf, der die schier endlose Warterei auf etwas Sonnenschein vergessen lässt. Dann machen wir uns auf den Weg. Immerhin wollen wir die heutigen Lichtverhältnisse für unsere Tour entlang des Icefields Parkway nutzen.
Also auf geht es! In wilder Fahrt rauschen wir nordwärts, vorbei am bereits gestern besuchten Mistaya Canyon sowie an der Raststätte Saskatchewan River Crossing und Richtung Gletscherfelder. Hier wollen wir einen Bergrücken erklimmen, der Blicke auf einen der Gletscher zulässt. Während wir so brausen, nimmt die vormals farbenfrohe Landschaft langsam wieder das uns vertraute, klassische Kanada-braungrau an. Was ist passiert? Die Wetteranomalie hat ihr Ende gefunden. Statt ihrer spüren wir nun wieder den matschigen Blick dichter Haufenwolken auf unserer Seele lasten. Sei es drum: die Parker Ridge wird gleichwohl bezwungen und zum Dank begrüßt uns oben sofort ein kleiner Regenschauer. Dank Butterkeks ist Sophia gleichwohl bester Laune.
Während der Wanderung werde ich einmal mehr einer weiteren Anomalie Gewahr, die mir während der vergangenen Tage schon so manches Rätsel aufgegeben hat. Die gesamten kanadischen Rocky Mountains sind voller Inder. In den USA sind indische Touristen ein seltenes Kuriosum, hier gibt es keine größere Bevölkerungsgruppe. Überall Inder! An allen Aussichtspunkten und Tankstellen, in jedem Geschäft und Restaurant. Sogar die Bedienungen sind offenkundig indisch mit Kopftuch und Bindi. Wenn die Umgebung nicht wäre, könnte man sich in Mumbai wähnen. Aber warum? Ist Calgary - Neu-Delhi eine vergünstigte Flugverbindung? Ist Lake Louise ein Wallfahrtsort für Hindus? Hat ein berühmter indischer Influencer in Banff gestreamt? Es ist mir schlicht unbegreiflich. Am ehesten könnte ich mir noch vorstellen, dass Inder die unbarmherzige Sonnenglut in ihrem Land leid sind. Dann bietet sich natürlich ein Land als Reiseziel an, in dem so gut wie nie ein Sonnenstrahl die Erde berührt...
Noch immer ob der Geheimnisse dieser Welt grübelnd geht es weiter Richtung Norden. Lisa meint, sie habe soeben direkt am Straßenrand einen Bären gesehen, der mir in meiner Trance entgangen sei. Wahrscheinlicher ist indes, dass die unentwegt melancholische Witterung Halluzinationen bei Lisa hervorgerufen hat. Unterwegs machen wir jedenfalls noch einen kurzen Stopp an den Athabasca Falls, die man nicht unbedingt gesehen haben muss,...
...und erreichen schließlich das waldbrandgeplagte Jasper. So viele verbrannte Bäume habe ich noch nie gesehen. Das Feuer des vergangenen Jahres muss wahrhaft kolossale Ausmaße erreicht haben. Überall völlig verkohlte Gehölze; am Rande der Stadt sind mehrere triste Containerdörfer für diejenigen aufgebaut worden, die alles in den Flammen verloren haben. Zwar sieht man mangels Blattwerk nun die Wildtiere besser - als solche zeigen sich indes nur lahme Weißarschhirschkühe, sodass auch dieser Umstand nicht wirklich als Vorteil durchgehen kann.
In der Stadt angekommen nutzen wir sogleich den wieder möglichen Internetzugang, um gespannt die Wetterlage zu studieren. Und siehe da: Es soll regnen. Morgen Mittag und Nachmittag und Abend und übermorgen den ganzen Tag. Na super - alles andere wäre ja auch überraschend, nachdem wir heute schon die üblichen Sonnenstunden für den ganzen Juli abgegriffen haben. Blöd nur, dass wir die kommenden zwei Tage eine Kanufahrt Richtung Spirit Island geplant haben... Lange überlegen wir hin und her, ob wir uns mit entsprechender Ausrüstung nicht doch hinauswagen sollten. Am Ende siegt aber doch die Vernunft. Zweimal je fünf Stunden mit zitterndem und schreiendem Kind auf offenem Wasser, um unser Ziel dann im dichten Regen kaum erkennen zu können, klingt einfach nicht sonderlich verlockend. Dazu die gute Chance, sich hierdurch eine böse Erkältung zuzuziehen. Wir sagen den Kanutrip also schweren Herzens ab und stopfen uns aus Frust beim Italiener voll.
Anschließend fahren wir noch auf den Campingplatz, duschen und versuchen uns dann an einer Neuplanung der kommenden Tage. Kaum, dass die Sonne bei milden Temperaturen hinter den westlichen Bergketten versunken ist, klart der Himmel plötzlich auf - uns erwartet wohl eine sternklare Nacht...
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen