Dienstag, 29. Juli 2025

Tag 18 - Der Weg der grünen Paprika

5:00 Uhr morgens, der Wecker klingelt, ich hüpfe aus dem Bett. Tatsächlich schaffen es innerhalb der nächsten zehn Minuten auch Lisa und Sophia, ihre Schlafstätten zu verlassen. 5:20 Uhr sind wir dann auch schon startklar und rollen vom Campingplatz. 

Warum? Wir wollen parken. Und zwar am Ufer des Lake Louise, wo ab Sonnenaufgang alle Parkplätze belegt sein sollen. Da Sonntag ist und wir einen längeren Wohnmobil-Parkplatz brauchen, schien uns dreißig Minuten vor Sonnenaufgang vernünftig. Die einzige andere Alternative wäre ein Shuttle-Bus. Und ich hasse Shuttle-Busse.

Als wir gegen 5:30 Uhr am Parkplatz ankommen, zeigt sich, dass wir doch etwas übervorsichtig gewesen sind - 6:00 Uhr hätte locker gereicht. Aber sei es drum; lieber zu früh als zu spät. Also wird noch schnell gefrühstückt und dann geht es auch schon los. Wir wollen heute den Lake Louise von oben sehen, wofür man zunächst hoch zum Lake Agnes Tea House und dann je nach Verfassung noch ein wenig oder sehr viel weiter wandern muss. Zur Wahl stehen der Little Beehive Trail mit 10 Kilometern Länge und 500 Höhenmetern, der Big Beehive Trail mit 11,5 Kilometern Länge und 700 Höhenmetern und der Devil's Thumb Trail mit 14 Kilometern Länge und knapp 900 Höhenmetern. Welchen wir schaffen können, möchte ich erst am Teehaus entscheiden.

Zu Beginn der Wanderung ist es kalt. Sophia meint, ihre Gliedmaßen würden gleich vor Kälte absterben, aber bewahrheitet hat sich das wenig überraschend nicht. Dafür schimmert der Lake Louise mystisch im Morgenlicht.

Das Trailprofil zum Teehaus ist äußerst geradlinig. Es geht nahezu durchgängig recht steil bergan. Allzu tolle Ausblicke gibt es dabei aufgrund der dichten Bewaldung nicht. Nur ab und zu blitzt ein Stückchen See zwischen den Nadelbäumen hindurch.

Sophia hat es heute mir überlassen, ein Thema für ihr wanderungsbegleitendes Rollenspiel zu wählen. Ich entscheide mich dafür, dass sie als grüne Paprika versuchen soll, aus einer Kühlbox zu entkommen. Unfassbar, dass dieses Szenario genug Stoff für sieben Stunden kindliche Fantasie bieten wird. So werden zunächst die Protagonisten nebst Familienmitgliedern in Biografie und Charakter ausgiebig beschrieben, sodann zwei Ausbruchsversuche simuliert und schließlich eine neue Heimat gefunden. Aus irgendeinem nicht näher zu klärenden Grund wird die grüne Paprika am Ende zaubern können und ihre Fähigkeiten damit vergeuden, der fernsehschauenden Sippschaft nach Popcorn schmeckendes Stockbrot in sich von selbst wieder auffüllenden Eimern herbeizuwünschen.

Nach knapp drei Kilometern Wanderung erreichen wir den Mirror Lake, in welchem sich der Big Beehive spiegelt. Ihn zu erklimmen wäre heute die mittelschwere Variante. Von hier unten sieht er doch recht hoch aus...

Etwa einen Kilometer und 150 Höhenmeter weiter stehen wir am Teehaus. Von hier aus hat man einen schönen Blick auf den sich im Lake Agnes spiegelnden Devil's Thumb (der penisförmige Fels links), den wir als schwerste Option heute besteigen könnten. Auch ziemlich steil...

Nach kurzer Klopause entscheiden wir uns dafür, entweder Big Beehive oder Devil's Thumb zu erklimmen. Little Beehive scheidet aus, da wir aufgrund des heute raschen Schrittes dann bereits gegen 10:00 Uhr zurück am Camper wären. Also schlendern wir um den schönen Lake Agnes herum...

...und quälen uns an dessen anderem Ende die Switchbacks hinauf, bis wir zu einer Stelle kommen, wo es links zum Big Beehive und rechts nirgendwohin geht, weil die Besteigung des "Teufelsdaumens" kein offizieller Trail ist. Immer noch unschlüssig ob des weiteren Vorgehens schlage ich vor, zuerst mal zum Big Beehive Viewpoint zu wandern und dann weiter zu entscheiden. Immerhin ist dieser Aussichtspunkt nur 400 Meter entfernt. Gesagt, getan stehen wir zehn Minuten später dort und sehen... nichts. Vielen Dank, lieber Nebel - wie kann man denn selbst bei Sonnenschein noch Pech mit dem Wetter haben?

Nach einem kleinen Snack verrät die Uhr, dass es erst 9:30 Uhr ist. Warum also nicht auch noch den schweren Trail hinauf? So richtig viel weiß ich über selbigen leider nicht. Ich fand lediglich die Fotos bei AllTrails toll, habe aber ansonsten nicht näher dazu recherchiert, weil ich den Weg aufgrund der vielen Höhenmeter als unwahrscheinliche Option ansah. Zum Glück haben wir hier oben Netzempfang. Was sagt denn das Internet dazu? "...steile Dropoffs... Handschuhe und Helm empfohlen...nur für erfahrene Hiker..." Oh Gott, schnell wird die Seite wieder geschlossen. Wir gehen am besten einfach los und schauen ,wie weit wir kommen.

Kurz hinter der Kreuzung zum Big Beehive noch einmal ein Blick nach oben. Da ist unser Ziel; man erkennt von hier mit etwas Mühe sogar zwei Menschen, die auf der Spitze stehen!

Es folgt ein recht steiler Anstieg, gefolgt von einer kleinen Kletterpartie und sodann ein traumhaft schöner Weg am Rande des Teufelsdaumens entlang. Wenn nur der Weg nicht ganz so schmal, der Abgrund nicht ganz so tief wäre! Ich übernehme die stets eingriffsbereite Aufsicht über Sophia (daher der gekrümmte Gang); Lisa lässt sich ab und zu für Fotos zurückfallen. 


Ein uns entgegenkommendes Pärchen warnt uns mit Blick auf Sophia vor dem weiteren Trailverlauf, welchen sie als "sketchy" einschätzen. Unbeirrt gehen wir nach kurzem Dankeswort in der sicheren Annahme weiter, als unverantwortliche Rabeneltern bewertet zu werden. Aber jeder muss sein Kind und dessen Fähigkeiten selbst einschätzen können. Unseres jedenfalls setzt hochkonzentriert einen Fuß vor den anderen, hört pflichtschuldig auf jede Anweisung und findet an diesem Abenteuer großen Gefallen.

An den "Drop-Off"-Abschnitt schließt sich ein äußerst steiles Stück an, das bisweilen nur auf allen Vieren und unter Zuhilfenahme von Wurzeln überwunden werden kann. Vor dem Rückweg graut mir. Die gute Nachricht: Man fällt hier bei Fehltritt nicht mehr direkt in den Tod. Schließlich muss nur noch die felsige Kuppe mit ein paar wenigen Kraxel-Einlagen überwunden werden.

Oben angekommen erwartet uns ein traumhaftes Bild. Links der Lake Agnes, rechts der von aufgestiegenen Nebelschwaden überflogene Lake Louise. In der Mitte thront der von unten einst so hoch erscheinende Big Beehive.


Neben uns sind noch zwei weitere Pärchen hier. Eines davon hatten wir bereits am Beginn des "Devil's Thumb"-Abschnitts getroffen. Die Frau eröffnet uns sogleich, dass sie nicht gedacht hätte, dass wir es mit Sophia hierher schaffen... Ähhm, danke?! Mit der Zeit lichtet sich der Nebel und wenig später sind nur noch wir hier oben. Mutterseelenallein genießen wir die fantastische Aussicht.


Man beachte auch den prächtigen Schnauzer, den ich mir habe wachsen lassen. Zum Abschluss ein Panorama-Foto; dann müssen wir leider den Rückweg antreten. Gegen 13:00 Uhr ist nämlich Regen angekündigt.

Der Weg hinab wird äußerst behutsam angegangen. Sophia zwischen uns nehmend kraxeln wir im Schneckentempo den steilen Pfad sicher hinab. Mal seitlich, mal rückwärts, mal auf allen Vieren, mal auf dem Hosenboden rutschend. Nach etwa einer Stunde stehen wir wieder kurz vor den Switchbacks und genießen ein wohlverdientes Mittagessen. Dabei wird einmal mehr ein Eichhörnchen äußerst aufdringlich.

Sodann folgt nochmal so richtig Balsam für die Seele. Gibt es etwas Schöneres, als einen steilen Weg bergab zu schlendern, während sich fast alle anderen mühsam, keuchend und schwitzend in die Gegenrichtung emporschleppen müssen? Am Lake Agnes angekommen noch ein schickes Schnauzerfoto...


...und dann geht es schnurstracks wieder hinab bis zum Ufer des Lake Louise. Dort lassen wir Sophia bei mittlerweile zugezogenem Himmel aus dokumentarischen Gründen auf die Felsnadel zeigen, auf der wir wenige Stunden zuvor standen.

Kaum zehn Minuten im Wohnmobil, fängt es auch schon an zu regnen. Na, das ist doch mal perfektes Timing!

Heute wird mangels verbleibender Kraftreserven jedenfalls nur noch gegessen, eingekauft und das morgige Abenteuer vorbereitet. Immerhin soll es für zwei Tage einschließlich Zeltübernachtung an den absoluten Topspot in den kanadischen Rockies gehen: den Lake O'Hara.

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