Sonntag, 9. Juni 2024

Tag 46 - Stresstest

Heute erwartet unsere von Krankheit geschundenen Körper eine allumfassende Belastbarkeitsprüfung. Während wir die letzten Tage etwas runter schalten konnten, heißt es nun wieder: "Alles oder nichts!" Teils bewusst, teils aus Pech sowie aus planerischem Unvermögen wird an diesem Tag alles auf einmal zusammenkommen: Nässe, Kälte, Wind, Hitze, Mücken, Anstrengung, rutschige Felsen, tödliche Fauna und vor allem Unmengen von dem mit Abstand Nervigsten, auf das ein Wanderer treffen kann: andere Wanderer.

Der Tag startet für mich bereits halb zwei, da mein Körper mich sinnvollerweise mit völlig unproduktivem Husten weckt, der sodann eineinhalb Stunden andauert. Erst gegen um drei darf ich wieder einschlafen, um zweieinhalb Stunden später planmäßig wieder aufzuwachen. Aufgrund der Popularität des Trails und der angekündigten Höchsttemperatur von 34 Grad Celsius wollen wir nämlich möglichst früh starten.

Frohgemut und nahezu hustenfrei starten wir daher unseren Marsch, um nach wenigen Minuten festzustellen, dass ein Aufbruch bei Sonnenaufgang offenbar keine besonders innovative Idee ist. Mit einigen weiteren Wanderern habe ich ja gerechnet, aber das, was hier kurz nach um sechs los ist, kann doch nur ein Witz sein...

Egal, weiter geht's. Die Temperaturen sind ganz angenehm, die ersten Höhenmeter schnell genommen, die Mücken bald vertrieben. Doch dann kommt der namensgebende "Mist" des "Mist Trails", welcher unglückseliger Weise recht knapp am ersten Wasserfall vorbeiführt. Ebenso unglücklich die heutige Windrichtung: Trailwärts. Und schließlich völlig daneben: Unsere Bekleidung - für jeden ein T-Shirt ohne Wechselsachen. Das Ergebnis dieser Kombination: nach anfänglich zarten Berührungen kleiner Wassertröpfchen dauert es nicht lange, bis uns der Wind Unmengen eiskalten Schmelzwassers entgegenpeitscht. So sind wir bereits nach einem Drittel des 140 Höhenmeter umfassenden Granitstufenaufstiegs völlig durchnässt, während uns fortwährend neues Wasser zugetragen wird. Da lässt sich nun schlecht mittendrin eine längere Pause machen.

Also nix heute mit "Slow motion"! In einem Ruck kämpfen wir uns durch den Monsun, um zu unserem Leidwesen festzustellen, dass die Sonnenstrahlen bisher weder das Wasserfallplateau noch die nähere Umgebung erreicht haben. Also suchen wir uns erstmal eine windgeschütze Ecke und kauern uns dort zusammen, um uns halbwegs vor der Kälte zu schützen. Sophia bekommt zusätzlich meine Ersatzwandersocken über die Arme gestülpt, wovon sie sich sehr angetan zeigt.

Als auch nach fünfzehn Minuten keine wirkliche Besserung der Situation sichtbar wird, beginnt das Scouting nach möglichen Alternativen. Im Zuge einer erfolglos bleibenden Sonnenfleckexpedition gelingt mir dabei der Durchbruch. Etwa sechzig Meter entfernt befindet sich ein Plumpsklo, in das wir uns die nächsten zwanzig Minuten einschließen werden. Dort ist es zwar eng und stinkig, aber etwas wärmer und vor allem windstill. Welch' epischer Auftakt dieser Tour!

Dann endlich zeigt sich auf den etwas über uns gelegenen Granitplatten die langerwartete liebe Sonne, sodass wir unser Domizil verlassen, dort Platz nehmen und unsere Sachen trocknen.

Nach weiteren dreißig Minuten ist auch das halbwegs gelungen. Wir gehen daher das kurze Stück zur Oberkante der Vernal Falls zurück und genießen die phänomenale Aussicht.

Dann geht es weiter Richtung Nevada Falls. Binnen kürzester Zeit ist unsere Kleidung nun vollständig trocken und im Zuge des langsam erfolgenden weiteren Aufstiegs schlägt das Temperaturpendel in die andere Richtung aus: Es wird immer heißer.

Endlich auf dem Plateau angekommen, brennt die Sonne bereits ausnehmend stark, sodass wir uns ein schattiges Plätzchen suchen und eine halbe Stunde pausieren. Erst dann gehen wir die letzten Schritte zum etwas versteckt gelegenen und daher offenbar nicht so stark frequentierten Aussichtspunkt. Die Wassermassen, die hier herunterstürzen, sind einfach der Wahnsinn!

Zusätzlich kokettiert ein kleines Streifenhörnchen mit Sophia, die sich diesbezüglich ambivalent zeigt.

Vor dem Rückweg folgt dann eine weitere längere Pause, die Sophia in WhatsApp-Nachrichten an ihre Großeltern und das Erlernen der Schnipskunst investiert.

Der anschließend geplante Abstieg soll eigentlich über eine Alternativroute, den "John Muir Trail" erfolgen. Dieser ist jedoch ohne Vorankündigung gesperrt, was man weder am Trailhead, noch am Zielpunkt, sondern erst erfährt, nachdem man diesem sinnlos einige hundert Meter gefolgt ist. Das ist ja mal so ziemlich der Supergau, bedeutet es doch, dass wir den supernassen "Mist Trail" nochmal gehen müssen!

Aber es hilft ja nichts. Beschwerlich stolpern wir uns die unzähligen Granitstufen, die uns zur Oberkante der Nevada Falls geführt haben, wieder nach unten. Das Schlimmste dabei: Die mittlerweile unerträglichen Menschenmassen, die sich ja nun auch nicht auf zwei Wege verteilen können. Es ist eher ein Gänsemarsch mit steter Warterei wegen Gegenverkehr und beharrlich an einem vorbeispringenden oberkörperfreien Heranwachsenden. Leider nur die Männer.

Nach einer dem ersten Abstieg folgenden Pause verläuft sich das Ganze etwas und wir sind unfassbarerweise kurzzeitig allein unterwegs. Da passiert es plötzlich: Neben mir vernehme ich nur ein kurzes "trrrtrrrtrrrtrrrtrrr" und eine schwingende Bewegung... Sofort springe ich rückwärts weg und halte die glücklicherweise gerade nicht vorne laufende Sophia zurück. Ich bin doch tatsächlich nur wenige Zentimeter neben eine sich am Wegesrand bewegende Klapperschlange getreten, die sich hiervon verständlicherweise wenig amüsiert zeigt!

Auf einem so stark frequentierten Trail hätte ich im Leben nicht mit einem solch stattlichen Exemplar gerechnet und zwischen den Wurzeln ist sie auch ziemlich unauffällig. Das hätte richtig schlimm ausgehen können und war wahrscheinlich die bisher gefährlichste Situation der ganzen Reise. Nur ein paar Zentimeter weiter links hingetreten und ich wäre auf ihr gelandet, woraufhin sie sich gewiss zu revanchieren gewusst hätte! Noch schlimmer hätte es kommen können, wenn - wie sonst meist - Sophia vorne gelaufen wäre!

Mit gebührendem Sicherheitsabstand genießen wir nach diesem Schreckmoment die kurze Zeit allein mit dem faszinierenden Tierchen, bevor schon bald weitere Wanderer zu uns stoßen, die wir natürlich auf den unerwarteten Wegelagerer hinweisen. Dann geht es weiter zum Miststück des "Mist Trails".

Tja, keiner von uns will wirklich noch einmal durch den nasskalten Wasserdampf, aber es muss eben sein. Ich entscheide mich aus Trocknungsgründen für die oberkörperfreie Variante, was Sophia und Lisa für sich jeweils ablehnen. Unabhängig davon ist der Abschnitt freilich erneut für jeden von uns furchtbar, aber zum einen bergab wesentlich schneller überwunden und zum anderen nicht mehr so nachhaltig frisch. Innerhalb kürzester Zeit macht die Sonne aus nass wieder trocken. Ein eiligst vom weniger feuchten Teil des Abstiegs aus geschossenes Foto muss gleichwohl zur Dokumentation genügen.

Der Rest des Wegs ist dann relativ schnell überwunden, aber Lust auf die ursprünglich avisierten Mirror Lakes hat natürlich keiner mehr, zumal es auch bereits 16:00 Uhr ist und die Sonne ohne Erbarmen über uns glüht.

Also geht es zurück zu unserem Wohnmobil, in dem das digitale Thermometer nur noch "High" anzeigt, nach einigen Minuten Lüftung dann aber auf 37 Grad wechselt. So kuschelig muss es dann doch nicht sein, also bleiben wir noch eineinhalb Stunden draußen bis es drinnen auf 30 Grad "abkühlt". Dann heißt es ausruhen, denn morgen müssen wir schon wieder früh raus...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen